Der Weg nach Tallinn – hart erkämpft
(7-25) „Oh nee, wir kommen hier nicht weg. Zu viel Welle, zu wenig Wind!“ verkündet mein Skipper morgens um drei. Wir rucken im Hafen Dirham hin und her. Dabei wird der richtige Starkwind erst noch kommen, nicht auszumalen, was dann hier abgeht. Der Wind kommt von Nordwest und dagegen bietet der Hafen keinen Schutz. Morgens kurz nach fünf ist seine Ansage: „Lass uns fahren, es ist jetzt doch schon mehr Wind! Was meinst du?“. 46 Seemeilen sind es noch bis nach Tallinn.
Pest oder Cholera
Würden wir bleiben, hieße das für die nächsten Tage überhaupt kein Fortkommen und Pogo tanzen in dem Hafen, wahrscheinlich schlimmer als in Ventspils. Würden wir fahren hieße das: hohe Wellen, Windspitzen um die 6 Beaufort, Halbwindkurs. Wir entscheiden uns für Cholera.

Schnelles Frühstück, Wasser für die Thermoskannen kochen, Brote schmieren, Boot aufklarieren …. kurz nach halb sieben sind wir bereit. Wir können das Segel schon im Hafen setzen und gleich ein Reff einbinden. Dann geht es los!

Die ersten drei Stunden sind wirklich heftig. Wind und Welle schütteln uns durch, dazu kommt auch noch Nieselregen, der ständig die Brille beschlägt. Bei manchen Wellen höre ich mich nur sagen: hui - und dann gucke ich lieber weg. Emaloca ist wunderbar verlässlich, mein Skipper auch. Ich summe vor mich hin, um ja nicht in Panik zu verfallen.

Durchalten oder Hafen anlaufen
So einen derben Törn hatten wir in unserer ganzen Segelkarriere noch nie. Bis 27 Knoten bei anderthalb Meter Welle, als wir nach der halben Strecke entscheiden können, ob wir einen Hafen vor Tallinn anlaufen oder weitersegeln, entscheiden wir uns: wir machen weiter. Wellen und Wind haben sich auch wenigstens etwas ‚beruhigt‘.

Die Vorstellung, den aufziehenden Sturm in Tallinn abzuwettern und die Stadt in Ruhe zu entdecken sind unser Ansporn und endlich mal nicht immer das Seewetter im Blick zu haben: „Kommen wir weiter, kommen wir nicht weiter…“. Außerdem steht auf meinem Teebeutel: Der Weg ist das Ziel!

Nach 8 Stunden Kampf sind wir im Seaplaneharbour (Lennusadam) angekommen, ein netter Hafenmeister empfängt uns. Ich erzähle ihm mindestes dreimal, wie froh ich bin, im Hafen zu sein. Er lacht und schenkt Gerd ein Dosenbier.
Stolz oder was
„Bist du nicht stolz, was wir gemeistert haben?“ fragt mein Skipper ganz aufgedreht, während er kocht, das Schiff aufräumt und die Leinen sortiert. Ich habe nur drei Fragezeichen im Gesicht, lege mich auf die Seite und schlafe eine Runde.
Muskelkater in den Oberschenkeln zeigen mir am nächsten Tag, dass der Törn nicht nur mental anstrengend, sondern auch körperlich fordernd war. Aber ja, jetzt bin ich auch etwas stolz - nur nach Wiederholung schreit bei mir nichts!
Tallinn und eine Teebeutelweisheit
Wir sind gerade zwei Tage in Tallinn als Gerd teebeutelmäßig philosophiert: „Das Ziel hat den Weg gelohnt!“ Ich muss ihm rechtgeben. Da wir mein Fahrrad zur Reparatur bringen müssen, entdecken wir zufällig das spannende Stadtviertel Telliskivi. Streetart, umgenutzte Industriegebäude, nun mit Cafés, Ateliers, Bars, Läden, Ausstellungen ausgefüllt.
Man hat den Eindruck, überall entsteht was Neues. Hoffentlich wird diese Kreativität nicht irgendwann zu sehr kommerzialisiert. Hier ist auch das Museum Fotografiska mit spannenden Ausstellungen.
Fotografiska Museum


Erste Eindrücke von der Altstadt
Und dann schaffen wir doch tatsächlich nach zwei Tagen Tallinn, einen ersten Gang durch die Altstadt zu machen, ein beeindruckendes Ensemble von gotischen Hansebauten, Kirchen und Palästen.
Was ist der richtige Umgang mit der Geschichte?
Die „Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus“ ist „allen Opfern des kommunistischen Terrorregimes gewidmet, die zwischen 1940 und 1991 ermordet, inhaftiert oder deportiert wurden!“ Mehr als 90.000 erlitten dieses Schicksal.
Ein leicht ansteigender Betonweg ist rechts und links von hohen, schwarzen Mauern eingefasst. In die Platten eingraviert die Namen der Opfer. Dann kommt man ins Freie, eine mit Obstbäumen bestandene Wiese als Symbol für das verlorene Zuhause. Gewaltig und bedrückend.
Nicht weit davon entfernt eine ältere Gedenkstätte, ohne Beschriftung. Die Wegeplatten gebrochen, Warnungen wegen der Baufälligkeit, hier wird nichts instandgehalten, alles wird dem Verfall überlassen.
Es ist ein in den 60er Jahren errichtetes Denkmal für gefallene sowjetische Soldaten.
Neben den beiden Gedenkstätten liegt ein deutscher Soldatenfriedhof aus dem ersten und zweiten Weltkrieg, der Rasen frisch gemäht.
Es gibt unsere deutsche Vergangenheit, es gibt die estnische Geschichte und es gibt nun wieder den Terror Putins in der Ukraine und sonst wo. Etwas beklommen fahren wir zum Hafen.
Meistens Hafenrodeo
Ruhig ist es selten im Hafen. Immer noch zieht eine Starkwindfront nach der anderen durch, immer nur kurz von einem Tag Windstille unterbrochen. Aber es wird langsam wärmer. Bei 20 Grad in der Sonne und im Windschatten fangen wir schon an zu schnaufen.

Wir freuen uns auf das Sängerfestival.