Anke von der Emaloca

Estland – und noch kein Sommer in Sicht

(6-25) So eine von Extremen geprägte Segelsaison hatten wir noch nie. Ein Sturmtief jagt das nächste. Die dazwischen liegenden kurzen Pausen reichen kaum aus, um die Seele baumeln und ‚den lieben Gott einen guten Mann‘ sein zu lassen. Es ist Mitte/Ende Juni, aber Regen, Stürme und Kälte signalisieren: es ist Herbst. Wir segeln, wenn es denn mal geht, meist mit dem vollen Merino-Ganzkörperanzug und Handschuhen.

Emaloca mitten zwischen Millionen


Ein paar Tage hingen wir in dem Hafen von Kuressare fest. 36 Euro/Nacht für unser 30 Fuß- Boot, zu teuer! Um uns herum lagen 6 Saare-Boote, die alle eine gute eine halbe Million gekostet haben. Dann kam auch noch der Eigner der Saare-Werft mit einem Boot, so um eine Million.

Diese Menschen waren alle mit sich und ihren Booten beschäftigt. Auch das Restaurant/die Bar am Hafen passte nicht so recht zu uns. Wir fuhren ins Naturschutzgebiet und fanden: 6 verschiedene Orchideensorten schon am Straßenrand, eine Kreuzotter und einen Seeadler.

In der Arensburg (und bei Wikipedia) lernen wir etwas über die sehr wechselhafte Geschichte des Landes. Wer daran Interesse hat, findet eine Zusammenfassung am Ende des Blogs.

Hier nur ein paar Ausschnitte, auf Treppenstufen in der Arensburg, die die Zeit der sowjetischen Besetzung ironisch beleuchten:


„Es ist nicht wichtig was man wählt, sondern wie man die Stimmen auszählt!“

„Was bedeutet Glasnost? Es ist dir erlaubt, deinen Mund aufzumachen. Aber es gibt nichts, was du da reintun kannst!“


‚Normale‘ Menschen in Lourannana


Froh, den Hafen von Kuressare verlassen zu können, segeln wir zum kleinen Hafen Lounaranna. Es gibt dort ein einfaches Restaurant, einfache Biertische stehen auf dem Rasen. Kinder und Hunde wuseln durch die Gegend, Familien und Freunde sitzen zusammen. Das lange Midsommerwochenende deutet sich an.

Sofort kommen wir mit einer Estin ins Gespräch. Als wir erzählen, dass wir zum Sängerfest wollen, erfahren wir, dass sie auch schon dort mitgesungen hat. Dann guckt sie mich an und sagt: „Ich garantiere dir, du wirst weinen!“

Bei ihnen wohnt ein Japaner, der in Estland studiert. Sie und ihr Mann haben entschieden, ihm nicht estnisch beizubringen – „denn was soll er mit der Sprache in der Welt anfangen“ – sondern englisch. Auch der Japaner ist in einem Chor und auf dem Sängerfest dabei. „Wir haben ihm alle estnischen Texte beigebracht. Er kann sie perfekt, weiß aber nicht, was er dort singt!“ lacht sie.


Gutes Brot


Das Brot auf der Insel Muhu ist berühmt und wird sogar im Reiseführer angepriesen. Wir radeln in den Ort, eine große Schlange vor der Bäckerei. Kurz bevor wir dran kommen wird uns erklärt.“ Das Brot ist aus! Aber in einer viertel Stunde gibt es wieder welches!“

Die Frau, die vor mir steht, erklärt uns: „Hier muss man immer warten. Ich lebe in Tallinn, dort backen sie auch so ein Brot, aber hier ist es einfach unvergleichlich!“ Dann spricht uns eine Frau in perfektem Deutsch an.


Sie hat ein Jahr lang in Heidelberg studiert und schwärmt genauso von dem besonderen Brot. Sie singt dieses Jahr auch auf dem Sängerfest und sagt lächelnd: „Wenn wir in das Stadium kommen, weinen wir und wenn wir wieder hinausgehen auch!“

Dann endlich können wir zwei Brote kaufen (wirklich lecker) und die Frau verabschiedet sich lachend von uns: „Wir sehen uns auf dem Sängerfest!“ Unsere Vorfreude steigt natürlich!


‚Schicksalsgemeinschaft tröstet‘


Morgens um halb vier heisst es ‚Leinen los‘. Dunkel wird es hier nicht und die Morgenstimmung ist grandios – so 2,5 Stunden, dann bewölkt sich der Himmel und verkündet, was wir vom Wetterbericht schon wissen: es wird ungemütlich!

Wir werden zum Motorsegler (Vorsegel raus, Motor fungiert als Dieselwind), um spätestens mittags im Hafen zu sein. Das schaffen wir und meine inzwischen doch arg empfindlichen Nerven beruhigen sich wieder. In Heltermaa treffen wir Charly und Steffi aus Flensburg wieder, die wir seit Polen immer mal wieder gesehen haben.



Eigentlich hatten wir uns schon in Lettland verabschiedet. Ihr Boot ist größer und schneller als unseres – aber ihre Pläne haben sich geändert und das Wetter hat auch sie ausgebremst.

Gemeinsam nehmen wir die Fähre aufs Festland und radeln nach Haapsalu. „Segeln wird im Allgemeinen überbewertet!“ meint Steffi. Gerd: „Wenn ich in Island segeln will, dann fahre ich da auch hin!“ Der Galgenhumor nimmt zu, aber mit anderen netten Menschen sind die Tiefdruckmonster leichter zu ertragen.

In Haapsalu erleben wir dann den berührenden Auftritt von Tanzgruppen aus der Region, welch Balsam für unsere Seglerherzen! Wieder etwas, was unsere Vorfreude auf das Sängerfest steigen lässt.

Tallinn – nur noch 75 Seemeilen entfernt


Eine Finne liegt neben uns im Hafen. Gerd sagt zu ihm, als für einen Moment die Sonne hervorkommt: „Morgen wird es Sommer!“ Seine Antwort: „Sagen wir lieber, heute ist Sommer, dann sind wir morgen nicht enttäuscht, falls es anders kommt!“


Wenn wir morgen weiterfahren würden, müssten wir erst gegen den Wind motoren und wenn wir dann segeln könnten, wäre der Wind weg. Was tun? Werden wir wohl es morgen entscheiden.

Estnische Geschichte der letzten 100 Jahre in Kurzform


1918 erlangt Estland seine Unabhängigkeit, auch die Sowjets erkennen Estland an. 1939 schließt Estland einen Nichtangriffspakt mit dem Deutschen Reich. Doch in dem Hitler-Stalin-Pakt, einem Geheimabkommen, werden die baltischen Staaten der Sowjetunion zugeschlagen und 1940 annektiert.


Manche Esten kämpfen auf Seiten der Nazis in der vergeblichen Hoffnung von den Sowjets befreit zu werden. Andere wiederum kämpfen auf der Seite der Sowjetunion.



Es folgen Ermordungen und Massendeportationen von Esten, Verschleppungen in die Straflager der Gulags. Die Sowjetunion ist bestrebt, das estnische Nationalbewusstsein und die traditionellen Strukturen zu zerstören. Deshalb werden auch von 1945 an nichtestnische Sowjetbürger angesiedelt.

Im Rahmen von Perestroika und Glasnost erlangt Estland nach und nach seine Unabhängigkeit wieder. 1988 kommen 300000 Esten (Estland hat gerade einmal rund 1,3 Millionen Einwohner!) auf dem Sängerfestplatz in Tallinn zusammen.

Sie singen die verbotenen Lieder, die die Liebe zur estnischen Heimat als Thema haben und die verbotene estnische Nationalhymne. Diese Zeit wird als die ‚Singende Revolution‘ bezeichnet. 1991 erkennt die Sowjetunion die Unabhängigkeit Estlands an.

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von Anke von der Emaloca 9. Juli 2025
(8-25) Über eine Woche waren wir in Tallinn. Unbestritten war das Sängerfest der Höhepunkt, aber auch sonst sind wir von der Stadt, ihren Museen und der Atmosphäre begeistert – trotz richtigem Schietwetter. Tallinn hat viel mehr zu bieten als „nur“ eine Weltkulturerbe-Altstadt.
von Anke von der Emaloca 2. Juli 2025
(7-25) „Oh nee, wir kommen hier nicht weg. Zu viel Welle, zu wenig Wind!“ verkündet mein Skipper morgens um drei. Wir rucken im Hafen Dirham hin und her. Dabei wird der richtige Starkwind erst noch kommen, nicht auszumalen, was dann hier abgeht. Der Wind kommt von Nordwest und dagegen bietet der Hafen keinen Schutz. Morgens kurz nach fünf ist seine Ansage: „Lass uns fahren, es ist jetzt doch schon mehr Wind! Was meinst du?“. 46 Seemeilen sind es noch bis nach Tallinn.
von Anke von der Emaloca 17. Juni 2025
(5-25) „Lass uns noch bleiben, lass uns nach Nida fahren!“ Noch erschöpft von den Erlebnissen mit dem russischen U-Boot und der anstrengenden Nachtfahrt stimme ich sofort zu. Eigentlich wollten wir am nächsten Morgen weiter, den Wind nutzen. Aber es ist uns beiden unmöglich, nicht in das Haff zu segeln und die kurische Nehrung zu ignorieren. Die Heimat meines Vaters steckt wohl doch tief in mir.