Unter Segeln von Litauen nach Lettland
(5-25) „Lass uns noch bleiben, lass uns nach Nida fahren!“ Noch erschöpft von den Erlebnissen mit dem russischen U-Boot und der anstrengenden Nachtfahrt stimme ich sofort zu. Eigentlich wollten wir am nächsten Morgen weiter, den Wind nutzen. Aber es ist uns beiden unmöglich, nicht in das Haff zu segeln und die kurische Nehrung zu ignorieren. Die Heimat meines Vaters steckt wohl doch tief in mir.
Mit Wehmut nehmen wir die Veränderungen und vor allen Dingen das Bauvorhaben am Hafen wahr. Der alte, kleine Fischerhafen wird jetzt auch zur Marina umgebaut.

Größere Bauten - vermutlich für luxuriöse Ferienappartements - sind im Werden. So wie die Dünen, die jetzt langsam von Gräsern bewachsen werden, verändert sich auch der Ort.
Dennoch, als der Regen vorbei ist und sich endlich einmal für einen halben Tag die Sonne hervorwagt, ist es wieder da: das unvergleichliche Licht der Nehrung und die besondere Stimmung, als wir durch das „Tal der Stille“ zum Meer wandern. Ob wir nicht doch noch einmal wiederkommen müssen?
Sommer? Nirgends in Sicht
Das nieselige Herbstwetter, begleitet uns bis nach Liepaja, Lettland.
Wir bleiben einen Tag, Starkwind hält uns fest. Als wir eine Regenpause nutzen und eine kleine Fahrradrunde drehen, knirscht uns schon der Sand zwischen den Zähnen, noch lange bevor wir in Strandnähe sind.
Nach Pavilosta, unserem nächsten Ziel, sind es zum Glück nur ca. 25 Seemeilen. Hohe Wellen, das Segeln gleicht teilweise eher Fahrstuhl- oder Karusselfahren. Gerd refft das Großsegel. Als er fertig ist und das Fall aufschießt, ist er einen Moment unachtsam, rutscht leicht weg und peng, der Baum...

„Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlen muss, wenn ein Boxer einen auf die Nase bekommt,“ kommentiert mein Skipper trocken, als er wieder im Cockpit sitzt und sein Nasenbluten stillt. Uff, Glück gehabt!

Es wird wieder Starkwind kommen mit Wellen bis zu 3 Metern und Windstärke 7. Das wollen wir in Ventspils abwettern. Der Törn dahin ist von der Farbe grau bestimmt: graues Meer, grauer Himmel und grau um uns herum. Dann auch noch mal eine Nebelbank dazwischen.
Emaloca im Spinnennetz
Wir kommen bei Regen im Hafen an und stellen fest: Der ist voll! Das haben wir hier noch nie erlebt. Alle Mooringbojen sind belegt. Für uns bleibt als einzige Stelle ein Platz zwischen zwei viel zu kurzen Fingerstegen. Und nachts wird der Starkwind kommen. Und wir wissen: die Wellen werden sich an den Wänden aufschaukeln im Hafenbecken und verrückt spielen.
Letztlich sind wir an 3 Stegen und an der Mole mit insgesamt 9 Leinen festgemacht. Emaloca hängt darin wie eine Spinne im Netz. Trotzdem ruckt das Boot immer wieder mal heftig ein.

Zen – oder die Kunst des Aushaltens
„Gerd, was ist das?“ frage ich ihn als wir morgens in der Koje hin- und hergeschüttelt werden und das Knarzen der Leinen uns den Schlaf raubt. „Erst das U-Boot, dann der Nasenstüber und ständig dieses kalte Nieselwetter…“ Seine Antwort: „Zen! Sich im Annehmen und Aushalten üben!“ Das Lachen ist uns wenigstens noch nicht abhanden gekommen.
Sturm und Welle nehmen tagsüber noch zu. Erst in den nächsten Morgenstunden beruhigt sich das Wetter. Von drei Booten sind Leinen gebrochen bzw. durchgescheuert.
Wir machen eine Fahrradtour, um unsere Beine wieder in Schwung zu bekommen. Ich hatte 2 Tage das Boot nicht verlassen.
Das andere Lettland
Am nächsten Tag fahren wir mit dem Bus nach Kuldiga. Die Altstadt des kleinen Städtchens gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Aber in dem restlos überfüllten Kleinbus bekommen wir erst einmal ein anderes Bild von Lettland vermittelt: Armut, Elend und Alkoholismus. Das Land gehört zu den Spitzenreitern im Alkoholkonsum mit all den dazugehörenden Folgewirkungen.

Ich habe noch einen Sitzplatz ergattert, starre aus dem Fenster und versuche mich vom Gepöbel und von den Alkohol- und weit unangenehmeren Gerüchen abzulenken. Störche sind meine Rettung: ich sehe Storchennester, klappernde Störche, fliegende Störche und durch die Wiesen stakende Störche. Erinnerungen an meine Kindheit werden wach.
Im Gegensatz dazu scheint in den Marinas und auf touristischen Pfaden eine heile Welt zu herrschen. Ein Stück daneben und alles ist nicht mehr so rosig.
In der Altstadt von Kuldiga wieder ein anderes Bild als im Bus: Schon mittags sitzen Menschen beim Italiener, essen und trinken Aperol Spritz – alles zu Preisen wie bei uns. Nur beträgt in Lettland der gesetzliche Mindestlohn 740 Euro/Monat, das macht einen Stundenlohn von knapp 4,40 Euro.
Das Altstadtensemble ist wirklich außergewöhnlich. Man fühlt sich in eine andere Zeit zurückversetzt. Wir schlendern durch die Gassen, bewundern den natürlichen Flusslauf der Venta und genießen unseren ersten Sommertag! 23 Grad!

Am nächsten Morgen geht es weiter nach Estland. Es ist kaum zu glauben, aber wieder scheint die Sonne und wir brauchen weder Handschuhe noch Wollsachen. Gemächlich segeln wir mit dem Genakker, unserem schönen Bunten, nach Montu - denn auch die Welle ist moderat. Wir sind regelrecht euphorisch, so schön kann segeln sein!
In der windstillen Nacht schlafen wir 9,5 Stunden am Stück. Die Anspannungen der letzten Tage erscheinen uns wie aus einer anderen Zeit. Zen hat gewirkt!
