Anke von der Emaloca

Estlands Unabhängigkeit

(14-2018) Estland empfängt uns mit einem Blues der so gar nicht traurig ist und mit freundlichen, offenen Menschen, Geschichtsbewusstsein in Bezug auf die mehrfache Besatzung des Landes, Stolz auf seine Unabhängigkeit aber auch Sorge um die Zukunft.

Vom Elch zum Blues

Vor der Küste Estlands entschieden wir uns spontan, Haapsalu als ersten Ort anzulaufen. Denn dort fand gerade ein Bluesfestival statt, wie Google uns erzählte. Nach den ruhigen Turkuschären für uns genau das richtige Kontrastprogramm. Nachdem wir nach 80 Seemeilen müde in die Koje fielen, fuhren wir am nächsten Morgen mit dem Rad durch die kleine Stadt mit ihren 13.000 Einwohnern und waren von Anfang an begeistert.


Lebendiges Haapsalu

An der Architektur lassen sich die verschiedenen Einflüsse ablesen: alte Holzhäuser in Obstgärten erinnern an Schweden, feudale Gebäude aus den alten Seebadtagen zur Zeiten der Zaren, eine Strandpromenade zum Flanieren, nüchterne Bauten aus der Sowjetzeit, Neubauten, schöne renovierte, herausgeputzte Häuser, verfallene Gebäude, alles neben- und durcheinander. Während die kleinen Städte in Schweden eher an ein liebevoll eingerichtetes Museum erinnern, das in der Sommerzeit bewohnt ist, scheint hier ein normales Leben stattzufinden, mit allen Schönheiten aber eben auch Brüchen.


„Augusti Bluus“

Vor 28 Jahren erlangte Estland seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion und seit 25 Jahren gibt es den Augusti Bluus in Haapsalu. Wir hörten zum Beispiel die lettische Band „Cement“, die auf russisch sang. Verstehen konnten wir nichts, aber die Musik gefiel uns sehr. Das Publikum lachte viel, klatschte, kommunizierte mit der Band - für die Menschen hier ist russisch eine vertraute Sprache. Der Sänger verabschiedete sich mit 2 Worten 'Spasibo' (russisch Danke) und 'Freedom'. Danach kamen die Tomahawck Brothers aus Estland, eine ziemlich abgedrehte, gute Laune Brassband. Sie waren gerade durch die USA getourt mit dem Motto: „Let's make music great again!“


Gespräche über Estland

Am Rande des Auftritts eines amerikanischen Bluessängers kam ich mit einer Estin ins Gespräch. Ich hatte etwas über die wechselvolle Geschichte Estlands gelesen und war neugierig, was sie mir erzählen würde. Ich fragte ob es Probleme im Zusammenleben zwischen Esten und der russischstämmigen Bevölkerung gäbe. Denn in 1940er Jahren sind viele Esten von der sowjetischen Besatzungsmacht deportiert worden und nicht wenige sind in den Lagern umgekommen. Stattdessen wurden nichtestnische Bewohner, auch viele Russen, angesiedelt.


Sie winkte ab und sagte nur: „Ja früher, früher war es schwierig! Aber heute ist es anders. Man kann nicht mehr hören, welcher Abstammung jemand ist. Ich komme aus Tallin und ich erlebe, dass die jungen Menschen heute genauso gut russisch wie estnisch sprechen. Sie sprechen beide Sprachen perfekt. Man kann keinen Unterschied mehr erkennen, ist das nicht fantastisch?!“



Auch in Bezug auf die Abwanderung junger und qualifizerter Einwohner und den Bevölkerungsrückgang sah sie eine Trendwende. „Bis vor kurzem war es so. Jetzt kommen Esten wieder zurück, aber auch Menschen aus anderen Ländern wollen hier bei uns leben.“ Sie war voller Optimus.


Viel verhaltener war die Frau, mit der wir lange im Museum von Haapsalu sprachen. Ihre Tochter lebt seit 20 Jahren in Amerika. Mit ihren Kindern käme diese jedes Jahr nach Estland, aber hier leben möchte sie nicht mehr. Hoffnungsvoll erzählte sie dann: „Aber meine Enkelin, die mag Estland sehr, die könnte sich vorstellen, hier zu leben! Die will kommen!“ Ihre Enkelin war 10 Jahre alt.



Bei unserer Frage, wie sie die Unabhängigkeit und den Beitritt in die EU sehe, zögerte sie mit einer Antwort, erklärte dann zunächst: „Ich kann nur für mich sprechen, wie andere das sehen weiß ich nicht!“ Sie selbst sei viel gereist, nach Afrika und in andere Länder. „Das war schön. Frei reisen können ist ganz wichtig. Aber heute denke ich darüber nach, wie es ist, wenn ich noch älter bin. Habe ich genug zum Leben? Die Unsicherheit ist groß! Früher habe ich nie Menschen im Müll nach Lebensmitteln suchen sehen, heute sehe ich es.“


Dann wurde sie noch ernster: „Wir sind ein kleines Land, wir dürfen keine Fehler machen, das wäre eine Katastrophe! Und wir müssen mit unseren Nachbarn auskommen – und die sind wie sie sind!“ Dabei blickte sie uns bedeutungsvoll an und es war klar, auf wen sie anspielte.


Aber 1991 hätten ja 78% der Bevölkerung für eine staatliche Unabhängigkeit gestimmt, meinten wir. „Natürlich, kein Land mag es, wenn es besetzt ist. Wir wollten friedlich unsere Freiheit zurückbekommen. Unsere Revolution nennt man die 'singende Revolution'. Es war bei Strafe verboten, Lieder über unsere Heimat zu singen, erst recht nicht die estnische Nationalhymne.


Aber 1988 haben bei einem Sängerfest 300.000 Menschen (Estland hat rd. 1,3 Mio Einwohner!) das erste Mal wieder unsere Hymne gesungen. Dann gab es auch noch eine Menschenkette durch die drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, um für die Unabhängigkeit zu demonstrieren!“


Mehr als ein Päckchen Brot

Beeindruckt von dem kleinen Estland segelten wir weiter und waren im nüchternen Hafen Kuivastu zusammen mit einem lettischen Seglerpaar die einzigen Gastlieger. Sie fragten uns, ob wir auch noch nach Lettland wollten. Auf unser „Ja!“ schoss die Faust der Frau in die Höhe begleitet von einem freudigen „Yeah!“ Wir bedauerten, dass wir es dieses Mal leider nicht mehr nach Riga schaffen würden.


Kurz nach unserem Steggespräch klopfte sie an unser Boot. „Da ihr dieses Jahr nicht nach Riga kommt, möchten wir euch etwas schenken. Das Brot aus Riga ist sehr berühmt und eine Spezialität von dort, es ist mit Sauerteig gebacken!“ Dann übergab sie uns mit einem warmen, strahlenden Lächeln ein Päckchen Schwarzbrot als Einladung einmal nach Riga zu kommen. Was für eine Geste!


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