Anke von der Emaloca

Lettland im Aufbruch

(16-2018) Von Estland nach Lettland gesegelt, können wir nun über unsere lettischen Eindrücke berichten, die wir in den Hafenstädten Ventspils und Liepaja gewonnen haben. In Liepaja haben wir die lettische Geschichte komprimiert erfahren und mich Smutje gerade noch vor der Spießbürgerlichkeit bewahrt.

Unser lettischer Einstieg - Ventspils 

Ventspils ist eine kleine Hafenstadt mit rund 40.000 Einwohnern. Neben dem Yachthafen, der aus einer Handvoll Mooringbojen besteht, liegen Fabrikgebäude, die auch schon bessere Tage gesehen haben. Wir malen uns aus, dass hier in der Zukunft 'Wohnen am Hafen' begehrt sein wird – aber noch ist es lange nicht so weit. Die Mole wird gerade zu einer Promenade ausgebaut.

Wir radeln durch einen großen, aufwändig angelegten Park. Viele Skulpturen, Blumenkunstwerke, das alles sieht nach einer reichen Kommune aus. Ventspils bezeichnet sich auch als 'Hauptstadt der Blumen.' Beeindruckend ist, dass die Stadt viel Kunst im öffentlichen Raum fördert. Die Kuhparade ist dafür nur ein Beispiel.

Als wir dann in die Randbereiche der Stadt kommen, sehen wir zwar noch viele, öffentlich angelegte Blumenbeete aber ansonsten eher trostlose Plattenbauten in unterschiedlichem Zustand. In mir steigt die Frage auf, ob die dortigen Bewohner sich an den Blumen erfreuen können oder ob sie die Beete zynisch finden angesichts der Zustände ihrer Wohnblocks.

Die Altstadt können wir nicht so richtig fassen, sie wirkt ein wenig verlassen. Denn leider ist der Marktplatz nicht mehr belebt, wir sind zu spät gekommen. Man sieht an vielen Stellen auch Renovierungs- und Bauarbeiten, um die alte historisch gewachsene Stadt mit schöner Bausubstanz zu erhalten. Wir sind mit einem Tag, der auch noch im Regen endete, sicherlich zu kurz dort um einen runderen Eindruck zu bekommen.



Liepaja -Stadt im Aufbruch

Spätestens vor der Küste Liepajas mit den Bunkeranlagen, den golden Zwiebeltürmen einer russisch orthodoxen Kirche und den Gasspeichern gestehen wir uns ein, dass unsere Speicher so voll von Eindrücken unserer bislang zweieinhalb monatigen Reise sind, dass wir Lettland gar nicht mehr richtig aufnehmen können. Bloß schnell weiter fahren nach Nida zu kurischen Nehrung und uns da einfach nur erholen, bei einem nächsten Törn fangen wir mit den baltischen Staaten an – so unser Plan.

Doch der Wind hat anderes mit uns vor, hält uns 3 Tage in Liepaja fest. Neugier treibt uns natürlich doch hinaus in die mit knapp 80.000 Einwohnern drittgrößte Stadt Lettlands. Hier wird gebaut, vieles ist im Umbruch. Man findet alte Jugendstilhäuser, Holzhäuser, prachtvolle Gebäudekomplexe neben nüchternen, funktionalen Bauwerken.

Auch hier, wie in Ventspils, scheinen zwei Welten aufeinander zu stoßen bzw. nebeneinander zu existieren. Wir kaufen zum Beispiel bei einer alten Marktfrau ein Kilo Kartoffeln, ein Kilo Möhren und vier kleine Gurken für 96 Cent und denken, wir hätten uns verhört. Abends trinken wir dann ein Bier für 3,20 Euro in der westlich anmutenden „Partylocation“ am Hafen - so etwas wird sich die Marktfrau nicht leisten können.

„Ein einzigartiger Ort, der keinen gleichgültig lässt“

So steht es in der Infobroschüre über Karosta, einem gesonderten Teil von Liepaja und es stimmt.

Karosta wurde 1890 geplant als eine komplette völlig autonome Militärstadt mit Festung des russischen Zarenreiches. Während der Sowjetzeit war Karosta für die Zivilbevölkerung tabu. Noch einmal die Infobroschüre: „Im heutigen Karosta stehen die militärische Eleganz des Zarenrusslands und die Robustheit des sowjetischen Militarismus in einer eigenartigen Wechselwirkung.“

Als wir mit dem Fahrrad dorthin fahren, sehen wir hier wie in Ventspils, trostlose Plattenbauten. Zum Teil ist die Fassade renoviert, isoliert und mit neuen Fenstern versehen, teilweise sind die Gebäude äußerlich in einem katastrophalen Zustand, manche sind vernagelt. Von Eleganz sehen wir wenig. Die orthodoxe russische Kirche wurde von den Sowjets für ihre dort stationierten Matrosen als Sporthalle und Kino genutzt, Altar und Kreuze abgerissen. Sie ist heute wieder ein Gotteshaus und wird renoviert.

Wir nehmen an einer Führung im ehemaligen Militärgefängnis des Sowjets teil, vom Zaren eigentlich als Krankenhaus geplant. Auch die Nazis nutzten während ihrer Lettlandbesetzung von 1941 bis 1945 dieses Gefängnis. 


Danach radeln wir zu den verfallen Bunkeranlagen am Strand und weiter zu dem Holocaustdenkmal in den Dünen von Skĕde. Hier wurden während der Besetzung durch die Nazis über 7000 Menschen kaltblütig ermordet: vor allem Juden aber auch sowjetische Kriegsgefangene und Menschen aus dem lettischen Widerstand. Während des kalten Krieges waren hier auf Flensburg ausgerichtete Atomsprengköpfe stationiert.

Ein Tag voll beklemmender Eindrücke. Dann bekommen wir auch noch die Nachricht, dass der 18jährige Neffe unserer syrischen Freundin an diesem Tag durch eine Bombe getötet wurde. Wir, die wir uns auf einem wunderbaren Segeltörn um die Ostsee befinden, sind sehr demütig darüber, in welch einer privilegierten Zeit und in welch einem privilegiertem Teil der Welt wir leben.

Startup gegen Spießbürgerlichkeit

3 Nächte liegen wir im Stadthafen, der aus Stegen, die unterhalb der Kaimauer befestigt sind, besteht. Pläne von einem Hafen mit richtigen, ins Wasser gehenden Stegen, hängen am Kontor. Laut ist es, weil direkt neben uns eine Bar mit Disco, Aussenlautsprecher und ein Fastfood-Imbiss einen 24-Stunden-Betrieb haben.


Und dann kommen auch noch ungefähr 10 junge Menschen auf unseren Steg, unseren kleinen Puffer vom Tag- und Nachttrubel. Sie bauen einen Grill auf, es qualmt fürchterlich. Ich bin entsetzt, weil ich denke, jetzt wollen sie auch noch hier Party machen und fangen schon am Nachmittag an. Mein Skipper bezeichnet mich als spießbürgerlich, dabei weiß ich, auch er braucht seinen Schlaf.

 

Eine junge Frau hat wohl mein skeptisches Gesicht gesehen, kommt ans Boot und erklärt in geschliffenem Englisch: „Sorry, dass wir hier stören. Wir machen auch ganz schnell. Die Jungs da sind ein start up Unternehmen für einen transportablen Grill. Wir machen nur ein paar Fotos. Sie bekommen auch gleich einen gegrillten Burger von uns!“

 

Ich schäme mich und nehme sogleich die Socken ab, die zum Auslüften an der Reling hängen. Mein Skipper meint feixend, ich müsse umgehend zu der Truppe gehen und mich entschuldigen. Mache ich doch gerne!

Gespräche auf dem Steg über das heutige Lettland

Die Startups haben inzwischen ihre Fotos geschossen, und wir kommen ins Gespräch über ihr Land. „Ja, es sei nicht so einfach in Lettland, aber wir versuchen den Aufbruch.“ erzählen sie voller Optimismus und geben sich als überzeugte Europäer zu erkennen. Haben sie Angst vor Russland, dass sie wieder ihre Unabhängigkeit verlieren können? „Man weiß nie, was in der Politik passiert, aber wir sind doch in der Nato!“



Das Zusammenleben zwischen Russen und Letten sei nicht unbedingt einfach. „In fast jeder lettischen Familie ist jemand deportiert worden und umgekommen. Das sind Wunden, die sitzen tief. Es braucht Zeit, bis alles verheilt ist,“ erklärt mir ein junger Mann mit ernstem Gesicht und weiter: „manche Russen verhalten sich so, als ob die Sowjets hier noch die Macht haben. Sie wollen nicht einsehen, dass sich die Zeiten geändert haben.“

 

Ein anderer ergänzt noch: „Estland hat es einfacher, es ist näher an Finnland. Hier sind viel mehr Russen.“ Eine junge Frau blockt das Thema ab und sagt ganz freundlich „Wir sind jedenfalls nett zu allen, und manche können zusammenleben und manche eben nicht!“

 

Sie erzählen mir noch, dass es von der EU viele Zuschüsse für Häuserrenovierungen gäbe. Die Wohnungen in den Plattenbauten würden oft den jeweiligen Bewohnern gehören und wenn diese die Renovierung beschließen, müssten sie einen geringen monatlichen Abtrag zahlen.

 

Dann kommt mein Skipper hinzu und lässt sich den wirklich ausgefeilten Grill erklären. Wenn wir nicht schon Grillbesitzer wären (den wir kaum benutzen), wir hätten ihnen sofort einen abgekauft. Ich hätte mich noch viel länger mit diesen sympathischen Menschen unterhalten können, aber es sind eben Startups und die haben immer was zu tun. Die Grillburger schmeckten übrigens köstlich.

Share

von Anke von der Emaloca 17. Juni 2025
(5-25) „Lass uns noch bleiben, lass uns nach Nida fahren!“ Noch erschöpft von den Erlebnissen mit dem russischen U-Boot und der anstrengenden Nachtfahrt stimme ich sofort zu. Eigentlich wollten wir am nächsten Morgen weiter, den Wind nutzen. Aber es ist uns beiden unmöglich, nicht in das Haff zu segeln und die kurische Nehrung zu ignorieren. Die Heimat meines Vaters steckt wohl doch tief in mir.
von Anke von der Emaloca 5. Juni 2025
(3 + 4 - 25) „Gerd, guck mal. Ist das da eine Plattform oder ein Boot? Fährt das Ding?“ Wir gucken abwechselnd durch das Fernglas. „Das ist ein U-Boot!“ Einige Zeit später: „Es kommt auf uns zu und wird unseren Kurs kreuzen!“ Wir sind leicht angespannt.
von Anke von der Emaloca 28. Mai 2025
(2-25) ‚Dadumm, dadumm‘! Irritiert schauen wir uns an. „Hier ist kein Schießgebiet! Hier ist kein Schießgebiet!“ wiederholt Gerd leicht irritiert. „Das Boot hat vibriert!“ springe ich auf und sehe in unserem Kielwasser ein dickes, dunkles Holzbrett mit rotem Rand in den Wellen tanzen. „Container werden hier ja wohl nicht herumschwimmen …“