Riga!
(7-2021) Der Sturm war vorbei und wir ließen Emaloca ein paar Tage allein in Ventspils um mit dem Bus für 7,50 EUR nach Riga zu fahren. Die Route führte durch viel Wald. Das ist nicht verwunderlich, denn sein Anteil macht über die Hälfte von Lettland aus und die Waldfläche wächst.
Wir kamen vorbei an extensiv genutzten oder brachgefallenen Wiesen, teilweise schon von Büschen und kleinen Bäumen bewachsen.
Richtige Dörfer waren schwer zu erkennen. Die Häuser stehen weit auseinander. Nutzgärten mit Obstwiesen gehören dazu, Gärten mit reinem Zierrasen sind selten. Selbstversorgung ist für viele wahrscheinlich mehr Notwendigkeit denn als Hobby anzusehen.

Riga ist mit rd. 630.000 Einwohnern die weitaus größte Stadt von Lettland (1,92 Mio. EW). Autohäuser, Outletcenter u.ä. tauchen auf, als wir in die Außenbereiche von Riga kommen. Der Autoverkehr hat merklich zugenommen. Dazwischen liegen aber immer noch alte Holzhäuser mit Gärten und Obstbäumen drumherum.

So weit die Füße tragen
Unser Hotel liegt mitten in der Altstadt. Wir entscheiden uns gegen eine Stadtführung oder gezieltes planvolles Vorgehen und laufen an einem Tag 25 Kilometer zu Fuß durch die Stadt. (Wie sich am Abend unsere Füße anfühlten, lässt sich wohl erahnen).

Riga ist einzigartig
Manche Gassen in der verwinkelten Altstadt lassen uns an alte, italienische Städte denken, bei den prächtigen alten Gildehäusern fällt uns Lübeck ein. Der vergangene Reichtum einer alten Hansestadt springt auch in anderen Stadtvierteln ins Auge.

Wir kommen in typisch ‘privilegierte Wohnlagen‘- einzelne Häuser, oft Holzbauten, mit viel Grün und wenig Verkehr. An den meisten Häusern ist zu erkennen, dass hier noch die weniger Begüterten wohnen, aber schon gibt es top renovierte Häuser dazwischen mit neuen, großen Autos vor der Haustür. Wie bei uns in den Städten schon oft vollzogen, bahnt sich auch hier ein Verdrängungsprozess an.

Irgendwann gelangen wir in ein Viertel, in dem die verschiedenen Botschaften in alten, stolzen Prachtbauten residieren. Die Jugendstilhäuser, für die Riga berühmt ist, dienen als Firmensitze, Ländervertretungen aber auch zum Wohnen.
Riga wirkt einzigartig, so anders als Stockholm, Oslo oder Kopenhagen. Dann gibt es noch zahlreiche Museen, Gebäude oder Ausstellungen, die sich sicher lohnen würden. Unmöglich, alles in 3 Tagen zu schaffen. Wir müssen uns entscheiden.
„Wer ein Leben rettet, rettet die Welt“
Wir besuchen die Gedenkstätte von Zanis Lipke, das „am besten versteckte“ Museum wie in einer Broschüre zu lesen. Zanis Lipke (*1.02.1900, +14.05.1987) war ein Dockarbeiter im Rigaer Hafen. In einem von ihm gebauten Bunker unter seinem Holzschuppen versteckte er mit Unterstützung seiner Familie aber auch anderen Freunden, Juden aus dem Rigaer Ghetto. Er organisierte Lebensmittel, Fluchtwege und weitere Verstecke.

Ungefähr 60 Menschen wurde so das Leben gerettet. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, da Lipke auf die Frage nur gesagt hat: „Ich weiß es nicht, ich habe nicht gezählt. Es ist nicht wichtig.“ Für ihre Taten erhielten Zinis Lipke und seine Frau Johanna 1977 von Israel die Medaille „Gerechte unter den Völkern“ mit der Inschrift „Wer ein Leben rettet, rettet die Welt“.
Dem Museum ist es architektonisch gelungen, die Enge und das Bedrückende des Versteckes zum Ausdruck zu bringen. Die Museumsleiterin erzählte uns, dass es ihnen ein Anliegen ist, am Beispiel von Zanis Lipke zu zeigen, dass nicht alle Letten mit den Nazis kooperiert hätten. Ihr Traum sei es, hier eine Begegnungsstätte für Jugendliche einzurichten, damit sie aus der Geschichte lernen. Möge ihr Traum in Erfüllung gehen!

Später in der Stadt sehen wir zufällig auf dem Bürgersteig eine Messingplatte, ähnlich den Stolpersteinen. Weisen diese auf Häuser hin, in denen Juden bis zu ihrer Vertreibung und Deportation gewohnt haben, wird hier angezeigt, dass in dem Haus ein Mensch wohnte, der Juden versteckt hat.
Abweisende Nationalbibliothek
Begeistert von den Bibliotheken z.B. in Kopenhagen oder Aarhus, die mit ihren Standorten, ihrer Architektur und ihren Konzepten es Menschen so leicht machen, diese Orte zu betreten und zu nutzen, machen wir uns erwartungsvoll auf zur Nationalbibliothek.
Wirklich, architektonisch ein auffälliger Bau – aber dann die Enttäuschung: Schwer zu erreichen und erst recht schwer hinein zu gelangen. Sachen abgeben, Besucherausweis um den Hals hängen, nicht in die eigentlichen Bibliotheksräume hinein dürfen … kein Wunder dass in dem ganzen Gebäude mehr Personal als Besucher oder Nutzer zu sehen waren. So viel Geld verbaut, schade drum!
Kunst muss sein
Im Gegensatz zur Bibliothek hat uns das lettische nationale Kunstmuseum in den Bann gezogen. Zum einen wegen der gelungenen Balance zwischen altem Gebäude und modernen Ausstellungsräumen und zum anderen wegen der zeitgenössischen Sonderausstellungen.

Diese Installationen passen zu Corona und lockdown, was viele Künstlerinnen und Künstler ökonomisch in große Schwierigkeiten gebracht hat.

Fasziniert und bedrückt hat uns eine Installation der lettischen Künstlerin Skuja Braden. Sie hat sich mit der traumatischen Erfahrung ihrer Mutter auseinandergesetzt.
Als diese ein junges Mädchen war, wurde ihr geliebter Vater in einen Gulag abtransportiert wo er letztlich auch verstarb. Ihre Mutter hat es nie überwunden, dass sie dem Vater als er deportiert wurde nur einen alten Mantel mitgegeben hat obwohl es einen neuen, wärmeren gab.


Vergeblich hat sie später versucht, den Mantel nachzuschicken. Immer wieder hat sie darüber gesprochen und dabei vor Scham geweint, bis sie im hohen Alter Demenz bekam und die Geschichte vergessen konnte – endlich.
Konzert im Dom – ein krönender Abschluss
Welch großes Glück, im Rigaer Dom gab es ein Konzert mit dem renommierten lettischem Radiochor und der Domorganistin. Nach Vorzeigen unserer Impfpässe wurde uns Einlass gewährt. Wir waren überwältigt von der romantischen Orgel aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Sie ist eine der größten im baltischen Raum und hat ein gewaltiges, zugleich aber weiches Klangspektrum. Auch den Chor kann man nur als außergewöhnlichen Klangkörper bezeichnen, der moderne, lettische Chormusik interpretierte. Unseretwegen hätte das Konzert noch viel länger dauern können.
Speicher voll
Danach war aber unser Speicher endgültig voll. Wir hatten Sehnsucht nach Emaloca und ihrem sanften Schaukeln. Wären wir doch lieber auf eigenem Kiel nach Riga gereist, dann hätten wir uns öfter eine Pause gönnen können und wären sicher länger in Riga geblieben. Da hilft nur eins: wir müssen wiederkommen!

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